Sufismus, tasawwuf, ist eine Lebensweise.
Durch diese Lebensweise wird eine tiefere Identität entdeckt und zum Leben gebracht. Diese tiefere Identität, jenseits der bereits bekannten Persönlichkeit, besteht in Einklang mit allem was im Universum existiert. Diese tiefere Identität, oder das wesentliche Selbst, besitzt die Kräfte von Gewahrsein, Handlung, Kreativität und Liebe, welche weit über jene der oberflächlichen Persönlichkeit hinausreichen.
Der Sufismus ist eine lebendige Lehre. Seine Quelle ist Allah, aber das Medium durch das er übertragen wird, ist der Mensch. Diese Übertragung ist das Werk vieler hingebungsvoller und erleuchteter Lehrer im Verlauf der Geschichte. Man darf nicht vergessen, dass der Sufismus als eine lebendige Lehre nur durch Erfahrung und durch spirituelle Arbeit in unserem Alltag verinnerlicht werden kann.
Der Sufismus ist eine Erleuchtungstradition, welche die haqiqah (grundlegende Wahrheit) durch die Zeit weitergetragen hat. Diese Tradition muss im dynamischen Sinne aufgefasst werden. Ihr Ausdruck beschränkt sich nicht auf die religiösen und kulturellen Formen der Vergangenheit. Die Wahrheit des Sufismus erfordert frische Ausgestaltung in jedem Zeitalter. In all seinen Ausprägungen bleibt der Sufismus stets eine Anfechtung einer allzu materialistischen Gesellschaft. Er ist und bleibt die Kritik einer überhöhten „Weltlichkeit” und all dessen was uns die göttliche Realität vergessen lässt. Der Sufismus ist und bleibt ein Ausweg aus dem Labyrinth einer säkularen und kommerziellen Kultur. In diesem Sinne ist der Sufismus eine unmittelbare Einladung zu Sinnhaftigkeit und Wohlbefinden.
Der Sufismus, wie wir ihn kennen, entwickelte sich auf dem kulturellen Nährboden des Islam. Die islamische Offenbarung manifestierte sich als Ausdruck der grundlegenden Botschaft der Propheten aller Zeitalter an die Menschheit. Der Koran erkennt die Gültigkeit von 120 000 Propheten oder Botschaftern an, die gekommen waren um uns von unserem eigennützigen Egoismus wachzurütteln und uns an unsere grundlegende spirituelle Natur zu erinnern. Der Koran bestätigt die Gültigkeit früherer Offenbarungen und zeigt, dass die ursprüngliche Botschaft im Verlauf der Zeit oft verfälscht wurde.
Historisch gesehen ist der Sufismus in seiner Entstehung nie von der Essenz des Islam getrennt gewesen. Die wahren Lehrer des Sufismus führten ihre Erkenntnis über eine Transmissionskette auf Hz. Muhammad (saws) zurück. Auch wenn die Meister bestimmte Interpretationen des Islam abgelehnt haben mögen, haben sie nie die grundlegende Gültigkeit der koranischen Überlieferung in Frage gestellt. Sie waren keine Fundamentalisten im Sinne einer rigiden Auslegung und Ablehnung anderer Glaubensrichtungen. Von ihnen stammen die höchsten Leistungen innerhalb der islamischen Kultur, sie waren eine Kraft der Toleranz und Mäßigung.
Beginnend von seinen Wurzeln in der Zeit von Hz. Muhammad (saws) ist der Sufismus organisch gewachsen, wie ein Baum mit vielen Ästen. Diese Äste wurden tariqahs (Pfade) genannt. Die Ursache einer Abzweigung war in der Regel der Auftritt eines erleuchteten Lehrers, dessen Methode und Lehrbeitrag ausreichten, um eine neue Traditionslinie zu begründen. Die tariqahs betrachten sich üblicherweise nicht als Rivalen.
Wenn der Sufismus eine zentrale Wahrheit anerkennt, so ist es die Einheit allen Seins; wir sind nicht getrennt vom Göttlichen. Die Wahrheit von der Einheit allen Seins kann in unserer Zeit emotional vorzüglich nachempfunden werden, schließlich ist unsere Welt durch neue Medien, Kommunikation und Transport zusammengeschrumpft; aber auch intellektuell aufgrund von Entwicklungen in der modernen Wissenschaft. Wir sind Eins: ein Volk, ein Ökosystem, ein Universum, ein Geschöpf. Wenn es eine einzige Wahrheit gibt; dann, dass wir alle Teil des Einen sind, nicht getrennt. Die Erkenntnis dieser Wahrheit wirkt sich auf das Empfinden unserer Identität, auf unsere Beziehungen zu Anderen und auf alle Lebensbereiche aus. Im Sufismus geht es darum den Strom der Liebe, der das menschliche Leben durchfließt, aufgrund der Einheit hinter allen Erscheinungen zu erkennen.